Auskoppelungen

  1. Differenz und Identität

    Als Mitglied diverser Fanclubs von Luftgitarre-Vereinen kann ich bestätigen: Wir geben uns Spitznamen. Wir kümmern uns nicht um Adornos Forderung nach Unversöhnlichkeit von „Sache“ und „Begriff.“
    Da heißt einer „Humpel“ und wird immer so gerufen, nur weil er sich vor Jahren mal beim Männertag an irgendeiner Böschung den Kremserwagen über den Fuß rollen lies. Ein anderer steht bei den Kumpels nur als „Eio“ im Messenger, weil er einen langen Kopf hat, obwohl er eigentlich Andreas heißt. Wieder eine andere Frau wird „Edeka“ gerufen, weil sie irgendwann mal im Sommer ein knallgelbes Kleid an hatte und ihr besoffener Freund sie beim Grillen so begrüßt hat. Seit dem heißt sie „Edeka“. Ziemlich markant finde ich auch, dass eine auffällig attraktive Frau, die ebenfalls zur Clique gehört, liebevoll „Pickel“ genannt wird, im Winter manchmal auch „Picki“, Sie heißt aber eigentlich Dorothea. Fest steht, dass Pickel, Edeka, Eio, Humpel und wie sie alle heißen, eine sehr innige Gruppe oder Clique bilden, die auf gemeinsamen Männertags- oder Frauentags-Ausflügen oder an Spieleabenden sehr gut harmoniert und sich bei ihren undifferenziert differenzierenden Spitznamen ruft.
    Die Frage, die sich für mich ganz privat daran schon angeschlossen hat: Wäre es für ein zusammenwachsendes Europa nicht besser oder vielmehr herzlicher, wenn man die alten Spitznamen wieder reaktiviert. Europa als eine kumpelhafte Clique von Nationen, die sich wieder Spitznamen geben, eben weil sie ihre Eigenheiten anerkennen: Tommy, Krauts oder Fritz, Frosch, Spaghetti, Tzatziki u.s.w. Weil in Spitznamen auch immer eine gewisse Herzlichkeit der nationalen Eigenheiten ebenso von gemeinsamen geschichtlichen Gruppenerfahrungen anklingt, und mittlerweile auch eine gemeinsame Geschichte. Man könnte ja auch über neue Namen abstimmen lassen. So entsteht eine Einheit von Differenz und Identität – sozusagen als Parallel-Aktion zur problematischen Gleichmachungsgleichschaltung über den Euro…

2. Differenzwertperversion
Der adornogeschulte Differenzdeutsche weiß heute alles über die HEIMAT, über die KULTUR und das BIOTOP des „Anderen“  – der bedrohten Kaulquappe und des selten gewordenen Rittersporns. Er kennt die HEIMAT des Goldregenpfeiffers so genau wie die HEIMAT des bedrohten Alpensalamanders. Er engagiert sich für den Erhalt der kulturellen Identität eines VOLKES im 4. Nebenstrom des Amazonas. Mit unnachahmlicher Gründlichkeit puzzelt der Deutsche die ehemaligen beiden Geschlechter von Mann und Frau noch einmal auseinander und entdeckt und erkennt plötzlich 3 oder 4 oder 7 neue GeschlechtsIDENTITÄTEN, diverser und transdivers-sexueller Minderheiten. Für das identitäre Millieu und Biotop der bedrohten  Kleinohrfledermaus kettet er sich an Strommasten an, leitet Hitlers Autobahnen um und lässt sich von der Polizei  im Kampf für die HEIMAT des gemeinen HIRSCHKÄFERS wahlweise wegtragen, mit Tränengas oder mit Wasser bespritzen. Ja, sogar die Identität einer Tasse Kaffee, die auf der Straße serviert wird, weiß er in einem hochkomplexen Besteuerungssystem für Gastronomen SCHARF ZU DIFFERENZIEREN von einer Tasse Kaffee im Innenraum der Restauration.

Aber den Deutschen, das behauptet der Deutsche, den kennt er nicht. Den kann er irgendwie nicht einordnen. Der seine Minderheiten besondernde Deutsche kennt die vierundzwanzigste trans-lesbisch-multisexuelle-neomaskulin-postschwule Geschlechtsidentität ganz genau. Aber den Deutschen als sich selbst? Total schwierig irgendwie. Was deutsche Identität und Heimat ist, davon sollen wir keinen Schimmer haben können dürfen wollen.

Nachtigall – ick hör dir trapsen.

Ästhetik der Differenz oder Minoritätsmajorisierung

Was folgt daraus?  – noch ein längerer Text möglicherweise.

2 Antworten zu “Auskoppelungen

  1. Hallo,

    ich danke dir für diesen sehr gelungen Beitrag. Das ist ein wirklich sehr schön geschriebener Artikel, der einem zum Nachdenken anregt und viele Impulse hinterlässt. Besonder der erste Part mit den Spitznamen hat mich angesprochen.. Danke dafür.

    Liebe Grüße, Felix von AdPoint

  2. Ja. Danke…Denken und Nachdenken sind manchmal schon gut. Ich denke darüber auch schon eine Weile nach.

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